Der FC Wil – Plötzlich ein Spitzenklub in der Challenge League

Die Challenge League war in den vergangenen Jahren stets äusserst ausgeglichen und eng. Das ist auch nach 13 gespielten Partien der laufenden Saison 2022/23 der Fall. Trotzdem überrascht es, dass der FC Wil nach einem starken Start derzeit in Tuchfühlung mit der Tabellenspitze steht. Bolplazz beleuchtet, wie der Underdog aus der Ostschweiz zuletzt so auftrumpfen konnte und wohin die Reise der Wiler noch gehen könnte.

Bei Heimspielen im Schnitt gerade einmal etwas über 1’000 Zuschauer, ein eher unerfahrener Trainer an der Seitenlinie und dazu eines der schmalsten Budgets der gesamten Challenge League: Im ersten Moment würde man diese drei Faktoren keiner Mannschaft in der Spitzengruppe einer Profiliga zuordnen. Der FC Wil beweist momentan aber das Gegenteil und das in beeindruckender Art und Weise.

Obschon die Rahmenbedingungen bei vielen Konkurrenten wesentlich besser sind, sammeln die Ostschweizer Punkte am Laufmeter und stellen den vermeintlich grösseren Teams immer wieder ein Bein. Bestes Beispiel dafür war jüngst der 1:0-Heimsieg gegen den Aufstiegsfavoriten Lausanne-Sport. Nach einem Drittel der Meisterschaft steht der FC Wil bei starken 23 Zählern – womit er zwei Punkte hinter Leader Lausanne-Sport an 3. Stelle steht. Wir begeben uns auf Spurensuche für den plötzlichen Höhenflug des FCW.

Marvin Keller: Ein starker Rückhalt

Nach dem Leihende von Philipp Köhn im Sommer 2021 und seiner Rückkehr nach Salzburg, hatten die Wiler Verantwortlichen grosse Fussstapfen auf der Torhüterposition auszufüllen. Anderthalb Jahre später hat der ehemalige U21-Schlussmann der Schweiz schon 12 Partien in der Champions League absolviert und ist unbestrittene Stammkraft beim Ligakrösus in Österreich. Den sportlichen Leistungen Köhns trauert in Wil allerdings kaum einer mehr nach, denn mit Marvin Keller (20) gelang den Ostschweizern ein weiterer Glücksgriff. Der Mann aus dem GC-Nachwuchs sah bei den Hoppers keine Perspektive mehr und entschloss sich zu einem Wechsel in die Ostschweiz. In seiner ersten Profisaison stand der Torwart 30 Mal zwischen den Pfosten. Waren die Auftritte des jungen Kellers in der letzten Spielzeit verständlicherweise noch mit Licht und Schatten gespickt, kennt seine Entwicklung mittlerweile nur noch eine Richtung.

In 13 Spielen hielt Keller seinen Kasten bislang sechsmal sauber – ligaweiter Bestwert. Der gebürtige Londoner ist ein moderner Torwart aus dem Bilderbuch: Reaktionsschnell auf der Linie, gut mit dem Ball am Fuss. Verdientermassen feierte der Schweizer im September sein Debüt in der U21-Nationalmannschaft. Bringt Keller sein ganzes Potential auf den Rasen, ist er ein echter Trumpf für Trainer Brunello Iacopetta. Der 20-Jährige schreibt so eine weitere Torwart-Erfolgsstory beim FC Wil – und dürfte genau wie Köhn auch für die Schweizer A-Nati in Zukunft ein Thema werden.

Vielseitigkeit in der Offensive

Die Wiler können in der laufenden Spielzeit nicht auf einen einzelnen Ausnahmekönner oder Schlüsselspieler vertrauen. Vielmehr ist der Angriff breit aufgestellt, respektive verteilt man die offensive Schlagkraft auf mehrere Schultern – und dies mit grossem Erfolg. Mit 22 Ligatoren gehört man nämlich zu den gefährlichsten Teams in der Vorwärtsbewegung. In der Meisterschaft haben mit Carlos Silvio (37), Sofian Bahloul (22), Josias Lukembila (22) und Nikolas Muci (19) bereits vier Stürmer mindestens doppelt getroffen. Dazu kommen äusserst torgefährliche Akteure aus dem Mittelfeld und auch Innenverteidiger Genís Montolio (26) mischt mit beeindruckenden drei Treffern ganz vorne mit. Dadurch kann das Wiler Kollektiv auch bei einzelnen Ausfällen oder individuellen Formkrisen für Gefahr sorgen und wird von keinem Einzelakteur abhängig.

Des Weiteren ist die Alters- und Spieltertypenstruktur in der Offensive äusserst ausgewogen und durchdacht. Routinier Silvio und Top-Talent Muci sind physisch robuste Stürmer mit gutem Torinstinkt. Die entwicklungsfähigen Bahloul und Lukembila bringen die Gegenspieler dagegen vom Flügel aus mit feiner Technik und viel Dynamik in die Bredouille. Für Coach Iacopetta eine optimale Mischung, um in seinem typischen 4-3-3-System jede Verteidigungslinie zu durchbrechen. Das Timing der Laufwege und Positionsrotationen innerhalb einer Partie werden von den Stürmern ebenfalls sehr gut umgesetzt.

Kastrijot Ndau, der neue Fazliu

In den beiden vorherigen Jahren war Valon Fazliu kreative Schaltzentrale und absoluter Unterschiedsspieler des FC Wil. In der zurückliegenden Spielzeit war der 26-Jährige an herausragenden 28 Toren direkt beteiligt. Nach dem Abgang Fazlius zum Konkurrenten aus Aarau, schien dem FC Wil ein elementarer Bestandteil des offensiven Outputs wegzubrechen. Seit diesem Sommer springt allerdings ein anderer Akteur in die Bresche und macht mit seinen tollen Auftritten von sich reden: Kastrijot Ndau (23). Der in der Schweiz geborene Albaner stammt aus dem Nachwuchs des FC Zürich und ist seit 2019 Bestandteil der Wiler Mannschaft.

Zwar sammelte Ndau schon in Vergangenheit reichlich Einsatzminuten, doch erst seit dieser Saison vermag der 1,70m-Mann dem Spiel der Ostschweizer seinen Stempel aufzudrücken. In 12 Partien gelangen dem zentralen Mittelfeldspieler bislang 7 Scorerpunkte (2 Tore, 5 Vorlagen). Seine beiden Treffer erzielte der Linksfuss dabei mittels wunderschön verwandelten direkten Freistössen. Der ehemalige U21-Internationale Albaniens ist ohne Zweifel eine der Entdeckungen dieser Saison und in dieser Verfassung unverzichtbar. Ndau ist nicht nur Taktgeber mit feinem Füsschen im Spiel nach vorne, sondern er gehört auch zu den Aggressiv-Leadern des Teams. Seine fünf gesammelten gelben Karten zeugen von viel Biss und Einsatzwillen.

Vorteile eines Underdogs

Wie zu Beginn geschrieben, ist der familiäre FC Wil von der Strahlkraft, den finanziellen Möglichkeiten und dem Zuschaueraufkommen her einer der kleinsten Klubs im Schweizer Profifussball. Von 2002 bis 2004 schnupperte man kurz Luft in der obersten Spielklasse und holte dazumal sensationell den Cupsieg, doch seither sind die St.Galler fester Bestandteil der Challenge League. Aufgrund der sportlichen Ausgeglichenheit und der anstehenden Liga-Reform, möchten diese Saison gefühlt alle Vereine aufsteigen und haben dies auch entsprechend als Ziel ausgegeben. Bei den Äbtestädtern bäckt man aber kleinere Brötchen (ganz besonders seit dem Fiasko mit der türkischen Investorengruppe im Jahr 2017) – und hat entsprechend das Wort Aufstieg nie in den Mund genommen.

Genau dies könnte sich vor allem im weiteren Verlauf der Spielzeit als grosses Plus erweisen. Während die Mannschaften und Trainer aus Thun, Aarau, Lausanne etc. aufgrund der hohen Erwartungen ordentlich Druck verspüren, können die in der Lidl Arena beheimateten Wiler befreit aufspielen. Keiner erwartet, dass der Kanton St.Gallen bald zwei Erstligisten stellt. Ein enges Aufstiegsrennen mit viel Konkurrenz und fordernden Verantwortlichen und Fans ist für die Favoriten kein Zuckerschlecken. Mental haben Captain Philipp Muntwiler (35) und seine Equipe eine ganz andere Ausgangslage als praktisch alle anderen Klubs. Da Fussballspiele bekanntlich häufig im Kopf entschieden werden, könnte der fehlende interne und externe Druck die Wiler Akteure regelrecht beflügeln.

Dank klarer Strategie nach oben?

Den Grundstein für eine erfolgreiche Saison hat Wil mit dem furiosen ersten Saisondrittel eindrucksvoll gelegt. Noch fehlt dem Team von Brunello Iacopetta aber die letzte Konstanz, um wirklich als Challenge-League-Spitzenteam zu gelten. Gelingt es dem 37-jährigen Trainertalent, das Kollektiv weiter zu festigen und eine kleine Euphorie in Will zu entfachen, könnte den Ostschweizern der ganz grosse Coup gelingen. Dies wäre insofern verdient, als dass in den letzten Jahren gerade mit jungen Spielern sehr gute Arbeit verrichtet wurde und ein klares Vereinskonzept vorliegt.

Die Verantwortlichen verfolgen beharrlich eine Jugend-Strategie und bieten talentierten Spielern aus grösseren Klubs eine Bühne. Dank schlauer Zusammenarbeit mit diversen Vertretern der Super League und einer starken Nachwuchsförderung im Rahmen von Future Champs Ostschweiz, schnüren auch dieses Jahr einige ganz interessante Talente ihre Schuhe für den FC Wil. Neben den bereits erwähnten Akteuren sind auch YB-Leihgabe Nico Maier (21), Lausanne-Mittelfeldjuwel Stéphane Cueni (21) oder FCZ-Junior Nils Reichmuth (20) zu nennen.

Die Wiler sind – trotz mageren Zuschauerzahlen – im heimischen Bergholz noch ungeschlagen. Können sie den derzeitigen Flow mitnehmen und ihre Heimstärke weiter zementieren, dürften hoffentlich bald etwas mehr Fans am Rande des Kunstrasens zu sehen sein. Und wenn erstmal eine kleine Euphorie entfacht ist, ist im Fussball alles möglich. Dann heisst es «Sky is the Limit» – auch für einen geerdeten Klub wie den FC Wil.

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