In den letzten Jahren musste sich die Schweizer Nationalmannschaft nie Sorgen um die Besetzung der Linksverteidiger-Position machen. Mit Ricardo Rodriguez hatte man einen zuverlässigen und unbestrittenen Wert. Hinter ihm konnten sich aber kaum weitere Kandidaten aufdrängen. Bolzplazz analysiert die Schweizer Problemzone und hat ein paar Vorschläge für Nati-Coach Petkovic.
77 Länderspiele hat Ricardo Rodriguez (28) für die Schweizer Nati absolviert. Mit seiner Ruhe, Gelassenheit und Spielintelligenz gehörte er über die Jahre hinweg zu den wichtigsten und zuverlässigsten Spielern der Equipe. Nicht nur defensiv bewies Rodriguez seinen Wert für die Schweiz: Auch in der Offensive setzte er Glanzpunkte und erzielte 8 Treffer. Unvergessen dabei sein Elfmetertor im Herbst 2017 in der Barrage gegen Nordirland, das der Schweiz die Teilnahme an der WM 2018 in Russland sicherte. Rodriguez war seit seinem Nati-Debüt 2011 unbestrittener Stammspieler und der Platzhirsch auf links. Glücklicherweise blieb der gebürtige Zürcher bislang von schweren Verletzungen verschont, weswegen die Nati kaum je auf ihn verzichten musste. Doch dieser Segen ist zugleich ein Fluch: Da Hitzfeld und Petkovic stets uneingeschränkt auf Rodriguez setzen konnten, bildete sich kein echter Konkurrenzkampf hinter ihm. Somit fehlt der Nati Kadertiefe für die Linksverteidiger-Position.
Und genau das wird nun zum Problem für Vladimir Petkovic: Ricardo Rodriguez befindet sich seit längerem in einer Baisse. Bei der AC Milan war er lange aussen vor und wechselte auf die aktuelle Spielzeit hin zum FC Turin. Doch auch sein neuer Klub setzt trotz anhaltender sportlicher Krise nicht auf Rodriguez. Gerademal 14 Einsätze bestritt dieser nämlich für seine neuen Farben. Mit 28 Jahren ist Rodriguez in einem Alter, in dem er sich klar darüber werden muss, was er in seiner Karriere noch erreichen möchte und was realistischerweise drinliegt. Solange er nicht verletzt ist, wird er in der Nati unter Petkovic aber gesetzt seinZumindest war das in der Vergangenheit der Fall. Seit die Nati auf eine defensive 3er-Kette umgestellt hat, fehlt im Schweizer System nämlich der natürliche Linksverteidiger. Auf der ehemaligen LV-Position ist jetzt ein Aussenläufer („Wingback“) gefragt, der den Angriff mit Geschwindigkeit, Dynamik, Flanken und Dribblings unterstützt. Eine Rolle, die Rodriguez aufgrund von Tempodefiziten und fehlender Explosivität nicht auszufüllen vermag. Petkovic installierte Rodriguez zuletzt als Innenverteidiger, wo seine Qualitäten, die Ruhe am Ball, das hervorragende Positionsspiel und die exzellente Zweikampfführung, gut zum Tragen kamen.
Problemzone dank Dreierkette
Indem Rodriguez ins Zentrum gezogen wurde, wurde nun aber eine Problemzone auf links geschaffen. Gelernte Angreifer wie Steven Zuber (29) oder Renato Steffen (29) sind auf dieser Position verschenkt, während Abwehrspieler wie Loris Benito (29) oder Francois Moubandje (30) nie überzeugen konnten und den Nachweis schuldig blieben, genug Qualität für die Nationalmannschaft zu besitzen. Überdies ist Moubandje schon länger kein Teil mehr des Nati-Kaders und Zuber hat kaum Spielpraxis. Benito dürfte zwar im Aufgebot für den nächsten Zusammenzug sein, wirkliche Perspektiven hat er in der Nati aber keine.
Auf der rechten Seite hingegen hat Petkovic ein echtes Luxusproblem: In den letzten Jahren brachte die Schweiz eine grosse Zahl an qualitativ hochwertigen Rechtsverteidigern modernster Prägung hervor, die allesamt die nötigen Attribute mitbringen, im neuen Nati-System den offensiver ausgerichteten rechten Linienläufer zu geben. Silvan Widmer (28), Kevin Mbabu (28), Jordan Lotomba (22), Silvan Hefti (23), Kevin Rüegg (22) und Saidy Janko (25) sind alles ernsthafte Kandidaten für diese Position. Eine auch nur ansatzweise vergleichbare Kadertiefe fehlt auf links.
Eine mögliche Option wäre, einen der genannten Rechtsverteidiger nach links zu ziehen. Gerade Jordan Lotomba hat in der Vergangenheit bewiesen, auch auf der anderen Seite Dampf machen zu können. Stand jetzt wäre er wohl die sinnvollste Wahl für die linke Wingback-Position. Auch Silvan Hefti hat in der Super League schon seine Polyvalenz unter Beweis gestellt und könnte eine Überlegung wert sein, er wartet jedoch nach wie vor auf seine erste Nomination und ist auf rechts deutlich besser aufgehoben.
Kandidaten-Liste
Welche Schweizer Fussballer wären also im Stande, die offene linke Wingback-Position längerfristig zu besetzen? Angenommen, Jordan Lotomba bekäme den Zuschlag für den Startelfplatz, braucht es immer noch mindestens einen weiteren Spieler, der die geforderten Fähigkeiten mitbringt. Eine grosse Auswahl gibt es aber nicht…
Miro Muheim, 22: FC St. Gallen
Wohl die schlüssigste und vielversprechendste Wahl wäre Miro Muheim. Der Zürcher in Diensten der Ostschweizer spielte eine überragende letzte Kampagne und hatte einen grossen Anteil an der Vizemeisterschaft der Espen 2019/20. In der aktuellen Saison hat er aber mit einer Schulterverletzung und – wie der gesamte FCSG – mit seiner Form zu kämpfen. Nichtsdestotrotz besitzt Muheim alle nötigen Anlagen, um der Nati weiterhelfen zu können. Pfeilschnell, dynamisch und dribbelstark beackert der ehemalige Chelsea-Junior seine linke Seite. Defensiv präsentiert sich Muheim teilweise zwar noch zu nachlässig, aber insgesamt scheint er wie geschaffen für die Wingback-Position. Früher oder später wird ihn Petkovic berufen. Vorerst ist Muheim aber noch Teil der U21-Nati und dürfte in diesem Frühling an der EURO gesetzt sein.
Ulisses Garcia, 25: BSC Young Boys
Hinter Miro Muheim wird die Luft schnell dünner. Dies zeigt sich daran, dass mit Ulisses Garcia ein Super League-Rotationsspieler bereits als nächstbeste Alternative für die Nati auf seiner Position bezeichet werden muss. 2017 wurde Garcia, damals noch in Diensten von Werder Bremen, bereits einmal von Petkovic eingeladen, blieb aber ohne Einsatz. Im Luxuskader von YB pendelt der ehemalige GC-Junior zwischen Bank und Startelf, gehört aber nicht zu Seoanes präferierten Akteuren, denn in den wichtigen Partien wird ihm jeweils der Franzose Jordan Lefort (27) vorgezogen. Garcia ist ein kräftiger und athletischer Spieler, seine Stärken liegen in der Geschwindigkeit und in der rohen Power. Offensiv weiss er dabei durchaus zu gefallen, ausserdem gehören seine Flanken zu den besten der Liga. Ganze 21 Scorerpunkte (6 Tore, 15 Assists) in 92 YB-Auftritten sind für einen Linksverteidiger aller Ehren wert und sprechen Bände. Im Positionsspiel ist Garcia aber nicht allzu sattelfest und defensiv präsentiert er sich noch zu fahrig. Tolle Anlagen bringt er mit, aber ob das für die Nati reicht?
Mit Silvan Sidler (22, FC Luzern) und Léo Seydoux (22, KVC Westerlo) besitzt die Schweiz zwei weitere Aussenverteidiger, die zumindest eine Erwähnung verdienen. Beide sind zwar gelernte Rechtsverteidiger, werden aber auch immer wieder auf links eingesetzt. Potential bringen beide mit, rufen es aber noch zu wenig ab. Ihre Entwickung sollte man weiter beobachten, gelingt einem von ihnen der Exploit, wird dieser schnell in den Nati-Fokus rücken. Wie für Muheim gilt auch für sie: Aktuell sind sie Teil der U21-Auswahl und werden wohl an der EURO zu sehen sein. Ebenfalls im Auge behalten sollte man Nias Hefti (21, FC Thun). Sivans jüngerer Bruder hat sich im Berner Oberland auf links einen Stammplatz gesichert und gefällt durch Spielwitz, Polyvalenz und Bissigkeit.
Talente für die Zukunft
Marc Fred Tsoungui, 18: Lausanne-Sport
Die hervorragende Nachwuchsarbeit im Kanton Waadt hat zuletzt Spieler wie Andi Zeqiri (21), Dan Ndoye (20) und Cameron Puertas (22) hervorgebracht. Der nächste in dieser Liste könnte Linksverteidiger Marc Fred Tsoungui werden. Der Schweizerisch-Kamerunische Doppelbürger kehrte im letzten Sommer aus der U19 des SSC Napoli in die Westschweiz zurück und wurde sogleich Teil der ersten Mannschaft. Sieben Einsätze absolvierte Tsoungui für Lausanne-Sport und erzielte jüngst seinen Premierentreffer in der Super League. Physisch ist der U18-Nationalspieler bereits sehr weit, sein ungeheures Tempo und seine tollen technischen Fertigkeiten machen ihn zu einem hochspannenden Talent für die Zukunft.
Pascal Schüpbach, 20: FC Winterthur / BSC Young Boys
Auch YB-Junior Pascal Schüpbach, aktuell an den FC Winterthur verliehen, gehört in diese Kategorie. Jüngst von einer langwierigen Verletzung genesen, krönte der Schweizer U20-Nationalspieler sein Comeback mit seinem ersten Tor auf Profi-Stufe: Mit einem Hackentrick schoss er den FCW im Kantonsderby gegen GC zum Sieg. Schüpbach gefällt durch seinen Offensivdrang und seine enorme Geschwindigkeit. Immer wieder sucht er das Eins gegen Eins und tanzt seine Gegner mit frechen Tricks aus. Auch in der Rückwärtsbewegung zeigt sich der Berner resolut und zweikampffreudig. Eines Tages dürfte er bei YB durchstarten und dann wohl schnell in den Fokus der Nati geraten.
Malik Sawadogo, 17: Servette FC
Mit 17 Jahren ist Malik Sawadogo bereits unumstrittener Stammspieler in der U21-Abteilung von Servette. Jüngst unterzeichnete er seinen ersten Profi-Vertrag. Sawadogo ist ein grosses Talent und Teil der Schweizer U18-Auswahl. Sehr schnell, dynamisch und frech in der Offensive: In Genf wächst ein extrem interessanter Linksverteidiger heran, auf den man sich freuen darf.
Weitere Namen:
Sandro Theler, 20: FC Sion
Théo Gradaille, 18: FC Basel
Jahaim Kissling, 19: FC Zürich
Ashvin Balaruban, 19: FC Luzern
Profi-Vertrag für Sawadogo: https://www.servettefc.ch/index.php/actualites-academie/2392-malik-sawadogo-s-engage-sur-le-long-terme-avec-le-servette-fc
Muheim bald schon in der Nati? https://www.fm1today.ch/sport/fcsg/diese-fcsg-youngsters-stehen-vor-dem-nati-debuet-140953896
Ulisses Garcia peilt das Ausland an: https://www.4-4-2.com/super-league/yb-bsc-young-boys/yb-verteidiger-ulisses-garcia-auslandswechsel/