Gastbeitrag Joel Trummer – „Ulysses“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „Odysee“. Dies passt sehr gut zu Ulisses Garcias (25) bisherigem Karriereverlauf. In diesem Artikel blicken wir auf den fussballerischen Werdegang des Young-Boys-Linksverteidigers und auf seine rasante Entwicklung in dieser Saison.
Garcia kam als Sohn kapverdischer Eltern am 11. Januar 1996 in Genf zur Welt. Nachdem er in seiner Kindheit für den Genfer Vorstadtverein FC Onex spielte, wechselte er im Alter von 13 Jahren in die U-Mannschaften des Servette FC. Dass Garcia bereits zwei Jahre später die Servette-Akademie wieder verliess, gehörte in Genf damals schon fast zum Regelfall. Er wagte 2011 den Schritt in den Nachwuchs des Rekordmeisters GC Zürich.
Das damals stark kriselnde, finanziell angeschlagene Servette konnte aufgrund von ständigen Wechseln in der Führungsetage sowie dem Auf und Ab bezüglich der Ligazugehörigkeit kaum Perspektiven für junge, talentierte Spieler aus der eigenen Jugend bieten. So kam es, dass Servette seine Rohdiamanten häufig bereits im jugendlichen Alter ziehen lassen musste und somit auch keinen finanziellen Nutzen daraus ziehen konnte.
Namhafte Beispiele für diese Problematik gibt es einige:
- Kevin Mbabu (Januar 2013 zu Newcastle, damals 17-jährig)
- Denis Zakaria (Juli 2015 zum BSC YB, damals 19-jährig)
- Jérémy Guillemenot (Juli 2016 zum FC Barcelona, damals 18-jährig)
- Christopher Lungoyi (Januar 2018 zum FC Porto, damals 17-jährig)
- Becir Omeragic (Juli 2018 zum FCZ, damals 16-jährig)
- Alexandre Jankewitz (August 2018 zu Southampton, damals 16-jährig)
Vier Jahre lang war Garcia bei den Hoppers engagiert, der Rekordmeister führte ihn via U-Mannschaften langsam ans Fanionteam heran. Sein Debüt in der höchsten Schweizer Spielklasse gab er am 18. Mai 2014, beim 3:1 Sieg der Grasshoppers gegen den FC Sion. Nach gerademal drei Einsätzen für die erste Mannschaft strebte er im Sommer 2015 bereits den Sprung in die Bundesliga an und unterschrieb im Alter von 19 Jahren beim SV Werder Bremen. Dieser Schritt kam für viele unerwartet, hatte er doch zu diesem Zeitpunkt kaum Erfahrungen im Profifussball gesammelt.
Schwere Zeit in Bremen
In Bremen hielt man grosse Stücke auf den robusten, temporeichen Aussenverteidiger. Vorgesehen war es, dass er zu Beginn Spielpraxis bei der 2. Mannschaft in der 3. Liga sammeln sollte. Da er in den Vorbereitungen zur Saison 2015/16 aber zu überzeugen wusste, kam er sogleich regelmässig zu Einsätzen in der 1. Bundesliga.
Unglückliche Zeit in Bremen
Nach der durchaus vielversprechenden Anfangsphase fand er sich auf dem harten Boden der Realität wieder. In Bremen war man mit seinen defiziten im defensiven Stellungsspiel und seinem Zweikampfverhalten nicht zufrieden. Solche „einfachen“ Fehler werden auf Bundesliga-Niveau nämlich gnadenlos bestraft. Ein weiterer Faktor, der Garcia nicht zugute kam, war die allgemeine sportliche Situation der Bremer. Seit Jahren kriselte es im einst so stolzen Traditionsverein, der sich immer mehr im Überlebenskampf befand. Wie üblich, wurde in dieser Phase daher auf routinierte Spieler gesetzt, während die Entwicklung junger Talente auf der Strecke blieb.
Da Garcia in Bremen keine Rolle mehr spielte, erhoffte man sich bei Werder durch eine Ausleihe eine Win-Win-Situation zu kreieren. Für die Saison 2017/18 lief der Linksverteidiger daher ein Jahr lang in der 2. Bundesliga für den 1. FC Nürnberg auf. Dieser Schritt stellte sich jedoch schon sehr bald als Missverständniss heraus. Sein Debut für die Franken gab Garcia erst in der Rückrunde und brachte es insgesamt auf die katastrophale Bilanz von 38 Spielminuten für den „Club“. Der gewünschte Effekt der Leihe blieb also aus und in Bremen hatte man keine Verwendung mehr für den jungen Schweizer. So musste für ihn im Sommer 2018 ein Neustart her. Dieser sollte ihm in seinem Heimatland bei den Young Boys aus Bern gelingen.
Projekt YB: Garcia lanciert seine Karriere neu
YB und Ulisses Garcia – das passte von Beginn an gut zusammen. Der Wechsel nach Bern kann sehr gut mit jenem von Kevin Mbabu oder Djibril Sow verglichen werden. Allesamt kamen sie als ehemals grosse Schweizer Talente, die im Ausland gescheitert sind und in der Bundeshauptstadt ihre Karriere neu lancieren wollten. Das Vorhaben ging auf, Garcia eroberte sich einen Platz im Team und gefiel alsbald durch Tore und Vorlagen. Da er defensiv jedoch immer wieder gewisse Mängel offenbarte – vor allem im Stellungsspiel und im Zweikampfverhalten – setzte Gerardo Seaone gerade in wichtigen Spielen gerne auf den defensiv solideren Jordan Lefort.
Seit diesem Sommer und dem Abgang Seoanes in Richtung Bundesliga, ist Garcias Bedeutung für YB deutlich gestiegen. Der neue Trainer, der deutsch-amerikanische Doppelbürger David Wagner, der unter anderem Schalke 04 und Huddersfield Town trainiert hatte, fand sofort Gefallen am wuchtigen Aussenverteidiger und setzte direkt auf ihn. Unter Wagner geniesst Garcia nun mehr Freiheiten auf der linken Seite und avanciert langsam aber sicher zu einem Schlüsselspieler. Wagner mag es, seine Mannschaft mit viel Tempo und körperlicher Power spielen zu lassen – eine Spielidee, die Garcia sehr entgegenkommt, denn er verkörpert all diese Elemente wie wohl kein Zweiter im aktuellen Kader der Young Boys. Bereits Seoane liess einen ähnlichen Fussball spielen, insgesamt aber einen Ticken weniger risikofreudig – was auch erklärt, wieso der defensiv nach wie vor teilweise anfällige Garcia erst unter Wagner wirklich unumstritten ist.
Garcia bietet dem Spiel der Berner mit seinem Offensivdrang über die linke Seite, gepaart mit enormem Tempo und beachtlicher technischer Beschlagenheit, eine hervorragende Unterstützung im Angriffspiel. Hinzu kommt eine grosse körperliche Robustheit, die ihm noch mehr Durchschlagskraft verleiht und die gerade in Spielen auf internationaler Bühne eine Waffe sein kann. Unter Wagner hat sich Garcia in der Vorwärtsbewegung quasi zu einem zusätzlichen Flügelstürmer entwickelt, der nicht nur Flanken schlägt und zur Grundlinie vorstösst, sondern auch gerne selbst in den Strafraum vorstösst und den Abschluss sucht. In 123 Partien für YB kommt der Linksfuss auf eine gute Quote von 28 Scorerpunkten. Starke Flanken mit viel Zug, viel Durchsetzungsvermögen im offensiven Eins gegen Eins und ein gefühlvoller linker „Schlappen“ ermöglichen diese Bilanz.
Ulisses Garcia: Schlüsselspieler unter David Wagner
Wie wertvoll Garcia für das Berner Offensivspiel unter Wagner ist, hat er in der Champions League Qualifikation bewiesen. Sowohl gegen Bratislava, als auch gegen Cluj glückten ihm zwei herrliche und überaus wichtige Treffer aus der Distanz. Weil er aus Wagners Ensemble auf der linken Seite nicht mehr wegzudenken ist, überrascht es auch nicht, dass YB jüngst seinen Vertrag um zwei weitere Jahre bis 2024 verlängert hat.
Eine Option mehr für die Nati
Seine überragenden Leistungen zu Saisonbeginn haben Garcia im September diesen Jahres nach über vier Jahren die Rückkehr in die Schweizer Nationalmannschaft beschert. In den U-Teams spielte er von der U16 bis zur U21 noch regelmässig und war telweise sogar Captain – zu einem Einsätz für die A-Nati war es bis zu diesem Herbst aber noch nicht gekommen. 2017 bot ihn Petkovic für ein Trainingslager auf, zu mehr als zwei Auftritten auf der Ersatzbank reichte es damals aber nicht.
Garcia wurde anstelle des im September noch rekonvaleszenten Kevin Mbabu aufgeboten und gehört seitdem zum fixen Kader von Murat Yakin. Auf der Linksverteidigerposition schnappte der Genfer Loris Benito, der unter Petkovic noch zum Kern des Teams gehört hatte und an der EURO mit dabei war, den Kaderplatz hinter Ricardo Rodriguez weg. Mit Garcia, der ein gänzlich anderes Spielerprofil mitbringt als Rodriguez oder Benito, vergrössern sich automatisch auch die Möglichkeiten für Nationaltrainer Yakin. Mit seinem Tempo, seiner Physis und seiner offensiven Power kann er eine valable Option gegen tiefstehende Gegner sein oder als Joker neuen Schwung bringen, wenn neue Lösungen im Angriff gefragt sind.
Nach den letzten Länderspielen im Jahr 2021 und der erfolgreichen WM-Qualifikation der Nati, steht Garcia bei vier Einsätzen für die Schweiz. Zweimal wurde er als Joker gegen Gruppenfavorit Italien eingewechselt, beide Male offenbarte er jedoch defensive Unsicherheiten. In Rom verschuldete er so kurz vor Schluss mit einer ungestümen Störaktion gegen Domenico Berardi einen Elfmeter, den Jorginho glücklicherweise aber verschoss. Steigert sich Garcia in der Defensivarbeit, dürfte er seinen Platz als Schweizer Linksverteidiger Nummer zwei kaum mehr hergeben. Mit 25 Jahren ist er nach wie vor entwicklungsfähig und weitere Schritte dürfen zu erwarten sein. Mit seinem im Schweizer Team einzigartigen Profil ist er aber bereits jetzt eine gute Ergänzung, die gerade als Unterstützung für die Offensive wertvoll werden kann. Mit Rodriguez und Garcia verfügt Murat Yakin jetzt über zwei Optionen links hinten, die je nach Situation und Gegner ihren Stärken entsprechend eingesetzt werden können.