Gibts Überraschungen im Schweizer EM-Kader? Wir zeigen auf, welche Spieler zum Handkuss kommen könnten.
Nati-Coach Murat Yakin plagen vor der anstehenden Europameisterschaft arge Verletzungssorgen. Gut vorstellbar daher, dass der ein oder andere Überraschungskandidat den Sprung ins 26-Mann-Kader schafft. Doch wer käme dafür überhaupt in Frage?
Leonidas Stergiou (22) – plötzlich ein Muss?
Abwehrspieler Leonidas Stergiou debütierte bereits vor gut zwei Jahren für die A-Nationalmannschaft (Nations League, Schweiz – Portugal, 1:0). Kam seither aber zu keinem weiteren Aufgebot. Wohl auch, weil er grundsätzlich bei der U21-Nati gebraucht wird. Dort ist der Toggenburger nämlich Kapitän und Schlüsselspieler. Im letzten Sommer wechselte Stergiou nach fünf Jahren in der 1. Mannschaft des FC St. Gallen in die Bundesliga zum VfB Stuttgart. Bei den Schwaben, die eine historisch gute Saison spielen und sich für die Champions League qualifiziert haben, kämpfte Stergiou anfänglich um jede Einsatzminute. Im Verlauf der Rückrunde stieg er etwas überraschend zum Stammspieler auf, sorgte im Spiel gegen die Bayern mit einem Tor ausserdem für ein persönliches Karriere-Highlight und bekam nun einen langfristigen Vertrag bis 2028.
Stergious rasante Entwicklung in Deutschland könnte sehr wohl mit einem EM-Ticket belohnt werden. In St. Gallen jeweils noch in der Innenverteidigung im Einsatz, trumpft er heute als Rechtsverteidiger auf Top-Level auf. Auch in der U21-Nati spielt Stergiou grundsätzlich hinten rechts. Die defensiven Aussenpositionen sind bekanntermassen eine Schwachstelle der Nati. Man muss also kein Hellseher sein, um zu vermuten, dass Stergiou dank reichlich Bundesliga-Spielpraxis gute Karten haben dürfte. Gute Geschwindigkeit, abgeklärt, stilsicher und zuverlässig. Eine gute Ergänzung zu Silvan Widmer und Kevin Mbabu.
Kwadwo Duah (27) – bester Schweizer Torjäger im Ausland
Wer stürmt für die Schweiz an der EM? Logisch, Breel Embolo wäre gesetzt. Ist aber verletzungsbedingt einmal mehr fraglich. Zeki Amdouni und Noah Okafor sind ebenfalls wichtige Elemente, kommen aber beide aus keiner besonders erfolgreichen Saison. Bleibt noch Haris Seferovic, der in den Emiraten kickt und der zuletzt nicht mehr berücksichtigt wurde. Sowie Cedric Itten und Andi Zeqiri, hinter deren internationaler Tauglichkeit auf Top-Level zumindest ein kleines Fragezeichen gesetzt werden muss. Möglich daher, dass ein Aussenseiter eine Chance erhält. Eine Option sein könnte Kwadwo Duah (27). Der Berner, seit letztem Sommer beim bulgarischen Top-Team Ludogorets unter Vertrag, erlebt in Osteuropa ein gutes Jahr. Er gewinnt den Meistertitel, läuft in der Conference League auf und trifft regelmässig. 14 Tore sind es, darunter auch eines im Pokalfinal. Damit ist Duah der beste Schweizer Torschütze im Ausland in dieser Saison. Das von Yakin vielzitierte Momentum spricht also absolut für den früheren FCSG-Stürmer.
Aber nicht nur die Form könnte ein Argument für Duah sein. Auch sein Profil wäre für die Nati grundsätzlich interessant. Duah ist ein überaus athletischer Stürmer, der hohes Tempo mitbringt. Mit viel Dynamik stösst er in Lücken, überläuft auch mit Ball seine Gegner, ist bei Kontersituationen eine echte Waffe. Einen derart spritzigen, geradlinigen Stürmer, der so konsequent und explosiv in die Tiefe starten kann, fehlt Yakin grundsätzlich. Klar, auch Okafor ist schnell, ist aber kein reiner Mittelstürmer, sondern kommt auf dem Flügel fast besser zur Geltung. Angesichts seines hierzulande beinahe einzigartigen Profils könnte Duah also eine echte Bereicherung für die Nati sein. Und wäre dank seiner Athletik je nach Spielverlauf durchaus eine valable Alternative – Bulgarien hin oder her.
Joël Monteiro (24) – die Frage des Passes
Grundsätzlich etwas bessere Chancen als Duah dürfte YB-Stürmer Joël Monteiro haben. Nur: Der gebürtige Walliser wartet nach wie vor auf seine Einbürgerung. Solange diese nicht vollzogen ist, darf Monteiro die Schweiz international nicht repräsentieren. Dabei wäre er vom Profil her angesichts der akuten Stürmer-Not eine absolute Verstärkung. Der 1,91m-Schrank erlebt in Bern seine Durchbruch-Saison, ist Stammspieler und bester Torschütze (12 Tore). Was Monteiro so spannend macht: Er kombiniert Grösse und Wucht mit Explosivität und Geschwindigkeit, entwickelt so eine rohe Dynamik und enorme Durchschlagskraft. Dieser Mix aus Physis und Athletik ist hierzulande selten und daher umso wertvoller. Monteiro ist dank dieser tollen Anlagen sehr flexibel, kann als Wand- und Zielspieler Bälle festmachen und ablegen. Kann aber auch mit Ball Tempo aufnehmen, mit erstaunlicher Agilität ins 1vs1 gehen und in die Tiefe starten.
In Monteiros Fall gilt: Kommt der Pass rechtzeitig (davon ist gemäss Blick auszugehen) und ist er fit genug, so dürfte er im EM-Kader stehen. Auch wenn sein Spiel in gewissen Aspekten noch nicht ganz ausgereift ist, wäre er alleine schon wegen seines Profils eine Waffe. Was seine Rolle in der Nati angeht, mag die EM vielleicht etwas früh kommen. Künftig hat er aber alle Voraussetzungen, um zu einer fixen Grösse in der Schweizer Offensive aufzusteigen.
Weitere Kandidaten
Wer reist als Back-Up zu Ricardo Rodriguez hinten links mit? Die besten Aussichten hat wohl Ulisses Garcia, der seit diesem Winter bei Olympique Marseille unter Vertrag steht und einigermassen regelmässig Einsatzzeit erhält. Aber: Garcia ist sehr offensiv ausgerichtet, bringt in der defensiven Phase gewisse Mängel mit. Ist deswegen bei Yakin auch nicht besonders hoch im Kurs. Miro Muheim spielt beim HSV in der zweiten Bundesliga eine fantastische Saison, ist in Yakins Augen als Zweitliga-Spieler aber kein Kandidat, wie er schon mehrfach betont hat. Bleibt noch FCB-Linksverteidiger Dominik Schmid, eine der wenigen Konstanten in einer turbulenten Basler Saison. Einmal aufgeboten war dieser bereits, im Frühjahr 2023. Blieb damals aber ohne Einsatz.
Im zentralen Mittelfeld gibts ebenfalls Überraschungspotential. Denis Zakaria und Djibril Sow fallen verletzungsbedingt aus. Möglich, dass hier ein Spieler mit Momentum reinrotiert. Vielleicht ja FCZ-Eigengewächs Bledian Krasniqi? Der Youngster erlebt die statistisch beste Saison seiner Karriere, ist flink, spielfreudig und torgefährlich. Ähnliches trifft auf Maxime Dominguez zu, der in Portugal bei Gil Vicente als Schlüsselspieler brilliert. In beiden Fällen dürfte die Wahrscheinlichkeit einer Nomination für die Endrunde aber sehr klein sein.